HEILIGE MESSE FÜR DIE MIGRANTEN
PREDIGT VON PAPST FRANZISKUS
Kathedra-Altar, Petersdom
Freitag, 6. Juli 2018
»Die ihr die Armen verfolgt und die Gebeugten im Land unterdrückt […] Siehe, es kommen Tage […] da schicke ich Hunger ins Land, nicht Hunger nach Brot […] sondern danach, die Worte des Herrn zu hören« (Am 8,4.11).
Die Mahnung des Propheten Amos erweist sich heute noch von brennender Aktualität. Wie viele Arme werden heute verfolgt! Wie viele Kleine werden unterdrückt! Sie alle sind Opfer jener Wegwerfkultur, die mehrmals öffentlich angeklagt wurde. Und zu ihnen muss ich sehr wohl die Migranten und Flüchtlinge rechnen, die weiter an die Türen der Länder mit größerem Wohlstand klopfen.
Als ich bei meinem Besuch auf Lampedusa vor fünf Jahren der Opfer der Schiffbrüche gedachte, habe ich mich zur Stimme des ständigen Appells an die menschliche Verantwortung gemacht: »„Wo ist dein Bruder?“ Sein Blut schreit bis zu mir, sagt Gott. Das ist keine Frage, die an andere gerichtet ist, es ist eine Frage, die an mich, an dich, an jeden von uns gerichtet ist« (Homilie bei der Eucharistiefeier auf Lampedusa, 8. Juli 2013). Leider waren die Antworten auf diesen Appell, auch wenn sie großherzig waren, nicht ausreichend, und so beweinen wir heute Tausende von Toten.
Der heutige Ruf vor dem Evangelium enthält die Einladung Jesu: »Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken« (Mt 11,28). Der Herr verspricht allen Unterdrückten der Welt Erquickung und Befreiung, doch er braucht uns, um sein Versprechen wirksam werden zu lassen. Er braucht unsere Augen, um die Nöte der Brüder und Schwestern zu sehen. Er braucht unsere Hände, um zu helfen. Er braucht unsere Stimme, um die unter dem – zuweilen mitschuldigen – Stillschweigen vieler begangenen Ungerechtigkeiten anzuklagen. In der Tat müsste ich über viele Arten des Stillschweigens reden: das Stillschweigen des gesunden Menschenverstandes, das Stillschweigen des „Es war schon immer so“, das Stillschweigen des „Wir“ im steten Gegensatz zum „Ihr“. Vor allem aber braucht der Herr unser Herz, um die barmherzige Liebe Gottes zu den Geringsten, zu den Ausgestoßenen, zu den Verlassenen, zu den Ausgegrenzten zum Ausdruck zu bringen.
Im heutigen Evangelium erzählt Matthäus vom wichtigsten Tag seines Lebens, an dem er vom Herrn gerufen wurde. Der Evangelist erinnert sich deutlich an den Tadel Jesu an die Pharisäer, die schnell hinterrücks munkelten: »Lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!« (Mt 9,13). Es ist eine direkte Anklage gegen die nutzlose Heuchelei derer, die sich „die Hände nicht schmutzig machen“ wollen, wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Es handelt sich um eine Versuchung, die auch heutzutage sehr wohl vorhanden ist. Sie wird zu einer Verschlossenheit gegenüber denen, die wie wir ein Recht auf Sicherheit und auf Bedingungen für ein würdiges Lebens haben, und anstatt Brücken baut sie Mauern – in Wirklichkeit oder in der Vorstellung.
Angesichts der Herausforderungen durch die Migrationen heute besteht die einzige vernünftige Antwort in der Solidarität und Barmherzigkeit; eine Antwort, die nicht zu viele Berechnungen anstellt, sondern eine gerechte Aufteilung der Verantwortung erfordert, eine angemessene und ehrliche Beurteilung der Alternativen und eine umsichtige Handhabung. Eine gerechte Politik stellt sich in den Dienst am Menschen, sie dient allen betroffenen Personen; sie kümmert sich um geeignete Lösungen zur Gewährleistung der Sicherheit sowie der Achtung der Rechte und der Würde aller; sie versteht es, auf das Wohl des eigenen Landes zu schauen und zugleich das der anderen Länder zu berücksichtigen in einer untereinander immer mehr verbundenen Welt. Eben auf diese Welt blicken die jungen Menschen.
Der Psalmist hat uns die rechte Haltung aufgezeigt, die wir im Gewissen vor Gott einnehmen müssen: »Ich wähle den Weg der Treue; deine Entscheide stelle ich mir vor Augen« (Ps 119,30). Ein Einsatz in Treue und nach rechtem Urteil, den wir, so hoffen wir, gemeinsam mit den Regierenden der Erde und mit allen Menschen guten Willens weiterführen. Deswegen verfolgen wir aufmerksam die Arbeit der internationalen Gemeinschaft, um auf die von den gegenwärtigen Migrationsbewegungen hervorgerufenen Herausforderungen zu antworten und dabei Solidarität und Subsidiarität klug in Einklang zu bringen sowie Ressourcen und Verantwortung zuzuteilen.
Ich möchte mit einigen Worten auf Spanisch schließen, die besonders an die Gläubigen aus Spanien gerichtet sind.
Es war mein Wunsch, den fünften Jahrestag meines Besuchs auf Lampedusa mit euch zu feiern, die ihr die Helfer und die aus dem Mittelmeer Geretteten vertretet. Ersteren möchte ich meine Dank dafür ausdrücken, dass ihr heute das Gleichnis des Guten Samariters verkörpert, der stehen blieb, um das Leben des armen Mannes zu retten, der von Räubern überfallen worden war, ohne danach zu fragen, wer er war, ohne nach seiner Herkunft, nach dem Grund seiner Reise oder nach seinen Papieren zu fragen …: Er entschied einfach, sich um ihn zu kümmern und sein Leben zu retten. Den Geretteten möchte ich abermals meine Solidarität und Unterstützung bekunden, da ich die Tragödien kenne, vor denen ihr geflohen seid. Ich bitte euch, dass ihr weiterhin Zeugen der Hoffnung seid in einer Welt, die täglich mehr um ihre Gegenwart besorgt ist, aber kaum Zukunftsperspektiven hat und unwillig ist zu teilen, und dass ihr unter Achtung der Kultur und der Gesetze der Aufnahmeländer gemeinsam am Weg der Integration mitarbeitet.
Ich bitte den Heiligen Geist, unseren Verstand zu erleuchten und unser Herz zu entflammen, damit wir die vielen Ängste und Sorgen überwinden; er mache uns zu gefügigen Werkzeugen der barmherzigen Liebe des Vaters und dazu bereit, unser Leben für die Brüder und Schwestern zu geben, wie es der Herr Jesus Christus für jeden von uns getan hat.
Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana