JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 13. Juni 2001
Lesung: Psalm 29
1. Einige Gelehrte betrachten den Psalm 29, den wir soeben gehört haben, als einen der ältesten Texte des Psalters. Machtvoll ist das Bild, das ihn in seiner poetischen und gebetsgleichen Entfaltung stützt: uns wird nämlich geschildert, wie ein Sturm sich fortschreitend entwickelt. Im hebräischen Originaltext wird er durch den Ausdruck »qol« rhythmisiert, der sowohl »Stimme« als auch »Donner« bedeutet. Deshalb bezeichnen manche Exegeten unseren Text als den »Psalm der sieben Donner«, gemäß der Anzahl der Stellen, an denen dieses Wort erklingt. In der Tat kann man sagen, der Psalmist hab den Donner als Symbol der Stimme Gottes aufgefaßt, die mit ihrem transzendenten und unerreichbaren Geheimnis in die geschaffene Wirklichkeit einbricht, die hierdurch bestürzt und verängstigt ist; in ihrem tiefen Sinn jedoch ist sie ein Wort des Friedens und der Eintracht. Unsere Gedanken gehen an dieser Stelle zum 12. Kapitel des Johannesevangeliums, wo die Stimme, die aus dem Himmel zu Jesus spricht, von der Menschenmenge als Donner empfunden wird (vgl. Joh 12,28 – 29).
Wenn uns das Stundengebet den Psalm 29 für das Gebet der Laudes vorschlägt, fordert es uns damit zu einer Haltung tiefer und vertrauensvoller Verehrung der göttlichen Majestät auf.
2. Es gibt zwei Zeitpunkte und Orte, zu denen der biblische Autor uns führt. Im Mittelpunkt (V. 3 – 9) steht die Schilderung des Sturms, der über den »gewaltigen Wassern« des Mittelmeers losbricht. Das Meerwasser verkörpert – in den Augen der Menschen aus biblischer Zeit – das Chaos, das die Schönheit und den Glanz der Schöpfung beschädigt, bis hin zu ihrer Zersetzung, Zerstörung und ihrem Zerfall. In der Betrachtung des tosenden Unwetters macht man so die Entdeckung der grenzenlosen Macht Gottes. Der Betende sieht den Orkan nach Norden ziehen und über das Festland hinwegfegen. Die hohen Zedern des Berges Libanon und des Berges Sirjon, der an anderer Stelle Hermon genannt wird, werden von den Blitzen zerschmettert und scheinen unter den Donnerschlägen wie verängstigte Tiere zu hüpfen. Die Donnerschläge kommen näher, sie durchqueren das ganze Heilige Land und erreichen den Süden, die Wüstensteppe von Kadesch.
3. Nach diesem Bild mit seiner starken Bewegung und Spannung werden wir aufgefordert, im Kontrast hierzu eine andere Szene zu betrachten, die am Anfang und am Schluß des Psalms dargestellt ist (V. 1 – 2 und 9 b – 11). Auf die Bestürzung und Angst folgt nun die anbetende Verherrlichung Gottes im Tempel Zions.
Es besteht eine Art Verbindungsweg zwischen dem Heiligtum in Jerusalem und dem himmlischen Heiligtum: An diesen beiden heiligen Orten herrscht Friede, und es erhebt sich dort das Lob der göttlichen Herrlichkeit. Der ohrenbetäubende Lärm der Donnerschläge wird ersetzt durch die Harmonie des liturgischen Gesangs, der Schrecken durch die Gewißheit des göttlichen Schutzes. Jetzt erscheint Gott »über der Flut [thronend …] als König in Ewigkeit« (V. 10), das heißt als Herr und oberster Herrscher der ganzen Schöpfung.
4. Angesichts dieser beiden gegensätzlichen Darstellungen ist der Betende dazu aufgefordert, eine zweifache Erfahrung zu machen. Zunächst soll er entdecken, daß das Geheimnis Gottes, symbolisiert durch den Sturm, nicht vom Menschen erfaßt und beherrscht werden kann. Wie der Prophet Jesaja singt, bricht der Herr wie Blitz oder Sturm in die Geschichte ein und verbreitet Panik unter den Frevlern und Unterdrückern. Unter der Macht seines Urteils werden die hochmütigen Gegner entwurzelt wie vom Orkan erfaßte Bäume oder wie von den göttlichen Blitzstrahlen zertrümmerte Zedern (vgl. Jes 14,7 – 8).
In diesem Licht kommt das zur Geltung, was ein Denker der Moderne (Rudolf Otto) als das »tremendum« Gottes bezeichnete, also seine unbegreifliche Transzendenz und seine Gegenwart als gerechter Richter in der Geschichte der Menschheit. Der Mensch glaubt vergeblich, sich der souveränen Herrschaft Gottes widersetzen zu können. Auch Maria wird im Magnifikat diesen Aspekt des göttlichen Handelns preisen: »Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron« (Lk 1,51 – 52a).
5. Der Psalm stellt uns einen weiteren Aspekt des Antlitzes Gottes vor Augen, den man in der Vertrautheit des Gebets und in der Feier der Liturgie entdeckt. Es handelt sich, nach dem oben genannten Denker, um das »fascinosum« Gottes, also um die Faszination, die von seiner Gnade ausgeht, um das Geheimnis der Liebe, die sich über dem Gläubigen ausgießt, um die zuversichtliche Gewißheit des dem Gerechten vorbehaltenen Segens. Der Betende fühlt sich im Frieden – sogar angesichts des Chaos des Bösen, angesichts der Stürme der Geschichte und dem Zorn der göttlichen Gerechtigkeit – eingehüllt in den schützenden Mantel, den die Vorsehung all jenen bietet, die Gott loben und seinen Wegen folgen. Durch das Gebet erkennt man, daß der wahre Wunsch Gottes ist, den Frieden zu schenken.
Im Tempel wird unsere Unruhe geheilt und unser Schrecken ausgelöscht; wir nehmen an der himmlischen Liturgie teil mit allen »Kindern Gottes«, mit den Engeln und Heiligen. Über dem Sturm – welcher der zerstörerischen Flut der menschlichen Bosheit ähnelt – wölbt sich dann der Regenbogen des göttlichen Segens, der an »den ewigen Bund zwischen Gott und allen lebenden Wesen, allen Wesen aus Fleisch auf der Erde« erinnert (vgl. Gen 9,16).
Dies vor allem ist die Botschaft, die aus einer »christlichen« Auslegung des Psalms hervorgeht. Wenn die sieben »Donner« unseres Psalms die Stimme Gottes im Kosmos darstellen, ist der höchste Ausdruck dieser Stimme derjenige, mit dem der Vater in der Theophanie der Taufe Jesu dessen tiefste Identität als »geliebter Sohn« (Mk 1,11 und par.) offenbarte. Der hl. Basilius schreibt: »Mystisch betrachtet hallte die Stimme Gottes über den Wassern, als bei der Taufe Jesu eine Stimme aus der Höhe kam und sagte: Das ist mein geliebter Sohn. Damals schwebte der Herr nämlich über vielen Wassern und heiligte sie mit der Taufe. Der Gott der Herrlichkeit donnerte aus der Höhe mit der starken Stimme seines Zeugnisses […] Unter »Donner« kannst du auch jene Veränderung verstehen, die sich nach der Taufe durch die starke »Stimme« des Evangeliums vollzieht« (vgl. Homilien zu den Psalmen; PG 30, 359).
* * * * *
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Bilder, die den Psalm 29 auszeichnen, stellen Gott als den geheimnisvollen und mächtigen Schöpfer vor. Seine Anwesenheit und sein Wort bewirken, daß die Erde erbebt und alles, was auf ihr wächst, erzittert.
Auch der Mensch empfindet Furcht und Schrecken angesichts dieses gewaltigen Gottes, der sich nicht begreifen und beherrschen läßt. Die menschliche Haltung gegenüber solch einer Majestät ist die Anbetung und der Lobpreis.
Andererseits wirkt die unendliche Liebe Gottes anziehend auf seine Geschöpfe. Sie wissen sich geborgen und geführt von der göttlichen Vorsehung. Darüber kann der Mensch nur staunen.
Das Gebet dieses Psalms gerade am Morgen lädt uns ein, voll Vertrauen und Zuversicht Gott in seiner Größe und Barmherzigkeit anzubeten und uns seiner gütigen Führung zu überlassen.
* * * * *
Herzlich begrüße ich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders heiße ich die Gruppe von Spätaussiedlern aus der Diözese Augsburg willkommen. Gerne erteile ich euch allen und euren Lieben daheim den Apostolischen Segen.
Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana