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  JOHANNES PAUL II.  

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 26. März 2003

 

Lesung: Psalm 90, 1-4. 12. 14 

1 Das vierte Buch 
Der ewige Gott – der vergängliche Mensch [Ein Gebet des Mose, des Mannes Gottes.]
Herr, du warst unsere Zuflucht von Geschlecht zu Geschlecht. 
2 Ehe die Berge geboren wurden, / die Erde entstand und das Weltall, bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. 
3 Du läßt die Menschen zurückkehren zum Staub und sprichst: »Kommt wieder, ihr Menschen!« 
4 Denn tausend Jahre sind für dich / wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht. 
12 Unsre Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz. 
14 Sättige uns am Morgen mit deiner Huld! Dann wollen wir jubeln und uns freuen all unsre Tage. 

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Die soeben mit unseren Ohren und unseren Herzen vernommenen Psalmverse sind eine Weisheitsbetrachtung, die aber auch wie ein Gebet klingt. Denn der Beter des Psalms 90 stellt ein Thema in den Mittelpunkt seines Gebets, das von der Philosophie am meisten erforscht, von der Dichtung am meisten besungen, von der Erfahrung der Menschen aller Zeiten und Länder der Erde am tiefsten empfunden worden ist:die menschliche Hinfälligkeit und der Fluß der Zeit. 

Wir denken an manche unvergeßliche Seite des Buches Ijob, in denen unsere Zerbrechlichkeit aufgezeigt wird. In der Tat, wir sind wie »jene, die im Lehmhaus wohnen, die auf den Staub gegründet sind; schneller als eine Motte werden sie zerdrückt. Vom Morgen bis zum Abend werden sie zerschlagen, für immer gehen sie zugrunde, unbeachtet« (Ijob 4, 19-20). Unser Leben auf Erden ist »wie Schatten« (vgl. Ijob 8, 9). Es ist wiederum Ijob, der bekennt: »Schneller als ein Läufer eilen meine Tage, sie fliehen dahin und schauen kein Glück. Sie gleiten vorbei wie Kähne aus Schilf, dem Adler gleich, der auf Beute stößt« (Ijob 9, 25-26). 

2. Am Anfang seines Liedes, das einer Elegie gleicht (vgl. Ps 90, 2-6), stellt der Psalmist die Ewigkeit Gottes und die geringe Zeit des Menschen mit Nachdruck einander gegenüber. Hier seine deutliche Erklärung: »Tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht« (V. 4). 

Infolge der Ursünde zerfällt der Mensch einer göttlichen Weisung nach in Staub, aus dem er genommen worden war, wie es schon im Bericht der Genesis zu lesen ist: »Staub bist du, zum Staub muß du zurück« (3, 19; vgl. 2, 7). Der Schöpfer, der den Menschen in seiner ganzen Schönheit und Vielschichtigkeit formt, ist auch derjenige, der »den Menschen zum Staub zurückkehren läßt« (vgl. Ps 90, 3). Und »Staub« ist in der biblischen Sprache auch symbolischer Ausdruck für den Tod, die Hölle, die Grabesstille. 

3. In dieser Bitte kommt das Gefühl der menschlichen Begrenztheit sehr stark zum Ausdruck. Unser Dasein ist flüchtig wie das am Morgen sprießende Gras; es hört sogleich das Geräusch der Sichel, die es zu einem Haufen Heu werden läßt. Bald tritt die Dürre des Todes an die Stelle des frischen Lebens (vgl. V. 5-6; vgl. Jes 40, 6-7; Ijob 14, 1-2; Ps 102, 14-16). 

Wie es oft im Alten Testament geschieht, bringt der Psalmist diese radikale Schwäche mit der Sünde in Verbindung:In uns ist Endlichkeit, aber auch Schuld. Unserem Dasein scheinen deshalb auch der Zorn und das Gericht des Herrn zu drohen: »Denn wir vergehen durch deinen Zorn, werden vernichtet durch deinen Grimm. Du hast unsere Sünden vor dich hingestellt … Denn all unsere Tage gehn hin unter deinem Zorn« (Ps 90, 7-9). 

4. Bei Anbruch des neuen Tages entreißt uns die Liturgie der Laudes mit diesem Psalm unserer Illusion und unserem Stolz. Das Menschenleben ist begrenzt. »Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig«, spricht der Beter. Auch der Ablauf der Stunden, Tage und Monate ist von »Mühsal und Beschwer« gezeichnet (vgl. V. 10), und die Jahre selbst erweisen sich als »ein Seufzer« (vgl. V. 9). 

Hier also die bedeutsame Lehre: Der Herr lehrt uns, »unsere Tage zu zählen«, damit wir sie mit gesundem Realismus annehmen und so »ein weises Herz gewinnen« (V. 12). Aber der Beter erbittet noch etwas von Gott: Seine Gnade stütze und erfreue unsere Tage, die so flüchtig und von Prüfungen gezeichnet sind. Er möge uns die Hoffnung verspüren lassen, auch wenn die Wogen der Zeit uns mitzureißen scheinen. Allein die Gnade des Herrn kann unserem täglichen Tun Festigkeit und Ewigkeit schenken: »Es komme über uns die Güte des Herrn, unsres Gottes. Laß das Werk unserer Hände gedeihen, ja, laß gedeihen das Werk unsrer Hände!« (V. 17). 

Durch das Gebet bitten wir Gott, daß ein Abglanz der Ewigkeit in unser kurzes Leben und Handeln eindringe. Durch die in uns gegenwärtige göttliche Gnade fällt ein Lichtstrahl auf den Ablauf der Tage, das Unglück wird zum Ruhm, und das, was sinnlos erscheint, wird Bedeutung erhalten. 

5. Wir beenden unsere Betrachtung über den Psalm 90, indem wir die altchristliche Tradition sprechen lassen, die den Psalm, ausgehend von der Gestalt des verherrlichten Christus, kommentiert. Der christliche Schriftsteller Origines schreibt in seinem Traktat über die Psalmen, der in lateinischer Übersetzung durch den hl. Hieronymus zu uns gelangt ist, daß es die Auferstehung Christi ist, die uns die vom Psalmisten erahnte Möglichkeit gibt, »zu jubeln und uns zu freuen all unsre Tage« (vgl. V. 14). Und das, weil das Ostern Christi die Quelle unseres Lebens nach dem Tod ist: »nachdem wir uns über die Auferstehung unseres Herrn gefreut haben, durch die wir – so glauben wir – erlöst worden sind und eines Tages auch auferstehen werden, sind wir jetzt durch diese Zuversicht ermutigt und verbringen die uns noch verbleibenden Tage unseres Lebens in Freude; wir loben Gott mit geistlichen Liedern und Gesängen durch unsern Herrn Jesus Christus« (Origines/Hieronymus, 74 omelie sul libro dei Salmi, Milano 1993, S. 652). 


Die Vergänglichkeit des Menschen und das nicht aufhaltbare Zerrinnen der Zeit stehen im Mittelpunkt von Psalm 90. Mit Nachdruck stellt der Psalmist die Ewigkeit Gottes der Flüchtigkeit der menschlichen Existenz gegenüber. Unsere Zerbrechlichkeit findet im biblischen Bild vom Staub ihren Ausdruck: „Staub bist du und zum Staub mußt du zurück" (Gen 3, 19; vgl. Ps 90, 3). 

Im Beten dieses Psalms sprechen wir die tief in uns sitzende Schwäche an, die uns allzu oft in die Sünde führt. Vor Gott dürfen und müssen wir unsere Begrenztheit und unsere Schuld bekennen. Wenn wir Menschen schließlich mit gesundem Realismus lernen, „unsere Tage zu zählen, dann gewinnen wir ein weises Herz" (Ps 90, 12). 

***

Vielmals grüße ich die Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern, heute besonders eine Gruppe der Hessischen Polizei. Vor dem unendlichen Gott sind wir Menschen klein und begrenzt. Nur die Kraft der Gnade kann unserem Tun Beständigkeit verleihen. Bitten wir den Herrn, daß der Glanz seiner Ewigkeit unser kurzes Leben durchdringe! Gottes Güte komme über euch alle!

  



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