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ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DIE BISCHÖFE AUS DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND ANLÄSSLICH IHRES "AD-LIMINA"-BESUCHES

Freitag, 14. Januar 1983

 

Liebe Mitbrüder im Bischofsamt!

1. Ganz herzlich begrüße ich Euch heute als die erste Gruppe der Deutschen Bischofskonferenz zu Eurem Ad-limina-Besuch hier im Vatikan. Von Euch könnten die Worte des hl. Paulus gelten, der im Galaterbrief von sich berichtet: ”Ich ging hinauf (nach Jerusalem) . . ., legte der Gemeinde und im besonderen den „Angesehenen“ das Evangelium vor, das ich verkünde; ich wollte sicher sein, daß ich nicht vergeblich laufe oder gelaufen bin“ (Gal 2, 2). In gläubiger Gemeinschaft mit dem Nachfolger des Petrus wollt auch Ihr Euch vergewissern, daß Ihr das richtige Ziel im Auge habt und der Weg stimmt, den Ihr in Eurer pastoralen Sorge für Eure Diözesen und Gemeinden beschreitet. Besonders willkommen heiße ich den jüngsten Mitbruder unter Euch, den Bischof von Limburg, der erst im vergangenen Jahn das Bischofsamt übernommen hat. Ebenso gilt in diesem Augenblick mein dankbares Gedenken dem verehrten und verdienten Herrn Kardinal Hermann Volk, der soeben Last und Freude einer würdigen Verabschiedung aus langjährigem treuem Dienst erfahren hat und deshalb heute nicht hier zugegen ist.

In gemeinsamer Hirtensorge fühle ich mich jedem einzelnen von Euch in den konkreten Situationen Eurer Diözesen und Eures Amtes brüderlich verbunden und möchte meinen Teil dazu beitragen, daß dieser Ad-limina-Besuch Euch neue Kraft und Zuversicht für Euren weiteren Weg gebe. Dabei möchte ich einige grundlegende Gedanken, die in Euren persönlichen Berichten bereits anklangen, hier noch einmal aufgreifen. Indem ich sie Eurer vertieften Betrachtung vorlege, richte ich sie zugleich an alle anderen Mitglieder Eurer Konferenz, so wie meine späteren Worte an die beiden anderen Gruppen auch Euch gelten mögen.

2. Christus sagt von sich, daß er gekommen ist, daß die Menschen ”das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10, 10).

Deshalb ist auch unsere Sendung in seiner Nachfolge ein Dienst am Leben. Dieser unser Auftrag als Bischöfe, als Kirche erhält gerade in der Welt von heute eine ganz spezielle Aktualität und Dringlichkeit, wie Ihr selbst es von seiten Eurer Bischofskonferenz in den vergangenen Monaten deutlich zum Ausdruck gebracht habt. Mit Freude und Zustimmung habe ich von der Initiative vernommen, die Ihr gemeinsam mit den Kräften des Laienapostolates in Eurem Land ergriffen und unter das biblische Leitwort gestellt habt: ”Wähle das Leben“ (Dt 30, 19). Alle Kräfte in Kirche und Gesellschaft sollen mobilisiert werden, um die heute den Menschen insgesamt bedrohende Feindlichkeit dem Leben gegenüber, den mangelnden Mut zum eigenen Leben und zur Weitergabe des Lebens durch ein neues Ja zum Leben zu überwinden. Die verhängnisvollen praktischen wie theoretischen Irrtümer, die das Leben als beliebig verfügbares Gut des einzelnen oder der Gesellschaft betrachten, sollen als unverträglich mit der Würde des Menschen von möglichst vielen Mitchristen und Bürgern durchschaut und auf eine eindeutigere Achtung vor dem Menschenleben hin korrigiert werden.

”Wähle das Leben“.- Wählt zwischen Tod und Leben, die Euch vorgelegt sind! Diese Entscheidungsfrage, die den Israeliten vor dem Einzug ins Gelobte Land gestellt wurde, ist auch uns und den uns anvertrauten Menschen gestellt angesichts des beschwerlichen Weges in die Zukunft. Dieser Weg - das muß unsere tiefste Überzeugung und unser klares Bekenntnis sein - führt nur dann nicht ins Leere, nur dann nicht in die Irre, wenn wir ihn in der Nachfolge dessen gehen, der allein von sich sagen durfte: ”Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6).  Leben ist nur möglich im Vertrauen auf das göttliche Erbarmen, das größer und stärker ist als alles, was uns die Hoffnung und den Mut zum Leben nehmen will. Nur in Christus erhält das Leben des Menschen seinen wahren Sinn und kann es zu seiner Fülle gelangen.

3. ”Wähle das Leben“. - Bei der Entfaltung dieses Appells werdet Ihr gewiß die ganze Breite des hiermit angesprochenen wertes den Menschen vor Augen führen: angefangen bei den Fragen der Umwelterhaltung und des Tierschutzes über die zentralen Probleme des irdischen Lebens des Menschen bis hin zu Verkündigung des ewigen Lebens, zu dem sich jeder Mensch berufen wissen darf. Das hier auf Erden verbrachte menschliche Leben ist zwar ein unantastbarer Wert, aber nach unserer Überzeugung in Übereinstimmung mit einer hohen Tradition von Philosophie und Weisheit anderen, noch höheren Werten untergeordnet, wie zum Beispiel der Würde der Person und ihren unveräußerlichen Grundrechten. So lehrt Ihr, das Leben hier auf Erden zu lieben und es in menschenwürdiger Weise zu fördern und zu entfalten, sich zugleich aber auch auszustrecken nach der wahren Fülle eines unzerstörbaren Lebens aus der liebenden Macht Gottes.

Diese christliche Spannung ist nicht leicht verständlich zu machen; sie gehört jedoch zum Lebensbild vieler Heiliger. Erst recht wie eine Provokation wirkt heute das Schriftwort: ”Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Mt 10, 39). Das Bekanntwerden des Lebens und Sterbens eines heiligen Christen von heute wie das Maximilian Kolbes hat aber viele Menschen wenigstens ahnen lassen, daß hier vielleicht die höchste Stufe von Lebensbejahung erreicht ist. Die tiefere Reflexion über diese letzte Möglichkeit eines Zeugnisses für die Würde des Lebens führt dann auch notwendigerweise dazu, das weitverbreitete Schlagwort von der notwendigen ”Selbstverwirklichung“ des Menschen einer näheren Prüfung zu unterziehen. Bis zu welchem Punkt läßt sich dieser Begriff mit unserem Glauben vereinbaren? Ist nicht die Grenze genau dort gegeben, wo er das Verständnis auslöscht für jenes christliche Wagnis, ”das eigene Leben zu verlieren“?

4. ”Wähle das Leben“. - Dieser Entscheidungsruf richtet unseren Blick auch auf einige brennende Einzelprobleme des heutigen sozialen Lebens, aus denen ich jetzt nur auf drei besonders eingehen möchte. An erster Stelle steht hier zweifellos die fortwährende Aufgabe, junge Männer und Frauen dafür zu motivieren, in einer verantwortlich gestalteten Ehe und Familie die Würde des Menschen auch in deren konkretem Vollzug aufleuchten zu lassen und das Leben zu bejahen. Indem sie das Ja zueinander wählen, beginnen sie miteinander einen Weg in die Zukunft, der in letzter Konsequenz das kleine Glück nur zu zweit übersteigt und zur Bejahung des Lebens auch in eigenen Kindern führen fußte. Versucht, den Menschen wieder Auge und Herz dafür zu öffnen, daß kein noch so wertvolles und attraktives Konsumgut an das Glück heranreichen kann, das die tägliche Begegnung und Auseinandersetzung mit der geheimnisvollen Welt eines Kindes als einer heranwachsenden Person demjenigen schenken kann, der gelernt hat, diese Werte zu sehen und sich über sie zu freuen.

Dabei dürfen wir auch nicht jene Ehepaare übersehen, die ungewollt kinderlos bleiben. Auch ihnen gilt - wenn auch in einer speziellen Weise - der Aufruf: ”Wähle das Leben“. ”Die leibliche Unfruchtbarkeit kann“, wie ich im Apostolischen Schreiben ”Familiäres Consortio“ betont habe, ”den Gatten Anlaß zu anderen wichtigen Diensten am menschlichen Leben sein, wie Adoption, verschiedene Formen erzieherischer Tätigkeit, Hilfe für andere Familien, für arme oder behinderte Kinder“ (IOANNIS PAULI PP. II Familiaris Consortio, 14). 

5. Unter den sozialen Aufgaben der Kirche rückt in letzter Zeit immer mehr das Problem der knappen Arbeitsplätze in den Vordergrund. Die Suche nach dem Lebensunterhalt, das Verlangen nach einem sinnvollen und anerkannten Einsatz der eigenen Fähigkeiten: beides zeigt uns deutlich den Zusammenhang mit dem Thema des Lebens. Einige von Euch und manche Eurer Priester sind in den vergangenen Monaten bereits aus nächster Nähe mit den harten Auseinandersetzungen konfrontiert worden, die eine drohende Massenentlassung oder Fabrikschließung naturgemäß mit sich bringen. Helft dabei mit, die Partner zum Dialog zu bringen, die ganze komplizierte Wahrheit der jeweiligen Situation zu suchen und ihr im Geist der Solidarität gemeinsam zu begegnen. Sucht Agitation zu vermeiden und lehnt die kurzschlüssige Jagd nach Sündenbocken ab: beides entspricht nicht den Maßstäben Christi, der gekommen ist, nicht zu verurteilen, sondern zu versöhnen und alle Menschen zu Brüdern zu machen.

Geht bei Eurem Einsatz zugunsten der bedrohten Arbeitsplätze davon aus, daß es in Eurem Lande durchaus auch zahlreiche sozial und christlich motivierte Unternehmer und Arbeitgeber gibt, die bereit sind und sich bemühen, ihre schwierige Aufgabe nach den Regeln sozialer Gerechtigkeit zu erfüllen. Die katholische Kirche selbst ist ja in Eurem Land einer der größten Arbeitgeber. Ich möchte Euch darin bestärken, auch weiterhin eine besondere soziale Verantwortung wahrzunehmen, wenn es darum geht, Arbeitsplätze auch unter eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten zu erhalten, jungen Menschen einen Ausbildungsplatz zu geben oder behinderten Menschen Raum für eine ihnen mögliche Tätigkeit zu schaffen. Eine solche konsequente soziale Ordnung im eigenen Haus gibt Euch einen zusätzlichen Rechtstitel, um den kirchlichen Arbeitsbereich weitgehend selbst zu gestalten, bis hin zu eigenen Formen einer Arbeitnehmervertretung, die Ihr zu Recht als der besonderen Natur des kirchlichen Dienstes angemessen betrachtet.

6. ”Wähle das Leben!“ - Dieser Aufruf, liebe Mitbrüder, richtet sich besonders dringlich an die junge Generation, an jene, die morgen die Last und die Schönheit des Lebens erfahren werden. Vor allen anderen brauchen sie die Zurüstung zu diesem Leben; sie brauchen den Mut zum Leben; sie brauchen Maßstäbe. Wir Museen uns selbst, unsere Priester und möglichst viele vom Glauben geprägte Laienchristen ermutigen, zu Gesprächspartnern gerade der jungen Menschen zu werden: dieses Gespräch müssen wir suchen, auch dort, wo uns Eigenart und Mentalität der jungen Generation zunächst fremd und seltsam erscheinen. Manche ungewohnte Gesten von ihrer Seite enthalten stille Fragen an uns alle, brennende, lebenswichtige Fragen. Schreckt auch nicht zurück vor dem Wort ”alternativ“, mit dem heute eine große Vielfalt von Ideen und Projekten im gesellschaftlichen Leben bezeichnet wird. Reflektiert und erwägt die dahinterstehenden Anliegen vertrauensvoll im Kreis erfahrener und weitschauender Männer und Frauen; denn es scheint tatsächlich so zu sein, daß verschiedene weltweite Entwicklungstendenzen gerade die Völker mit ausgeprägter Industriekultur allmählich an einen Punkt bringen, wo alternative Lösungen zum heute vorherrschenden Lebensstil gesucht und bedacht werden müssen. Die Kirche in ihrer großen geistigen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit ist doch am ehesten der Ort, wo solche neuen Lebensmodelle für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich formuliert und diskutiert werden können. Ist nicht unser ganz eigener Lebensweg als Christ, als Priester und Bischof immer schon ”alternativ“ gewesen? Je tiefer und überzeugter wir uns selbst an Christus, den Weg, die Wahrheit und das Leben halten, um so eher können wir dieses Gespräch mit der jungen Generation wagen. Die Zukunft des Menschen ist ein Risiko wert.

7. Liebe Mitbrüder! Diese wichtigen Anliegen und Anregungen, die ich Euch in herzlicher Verbundenheit und vertrauensvoller Offenheit vorgelegt habe, werdet Ihr gewiß mit Eurer eigenen theologischen Einsicht und pastoralen Erfahrung verbinden. Mögen sie dazu beitragen, das Wirken der Kirche im Dienst am Leben, am irdischen und übernatürlichen Leben, in Euren Diözesen und Gemeinden zu verlebendigen und wirksam auf den konkreten Menschen hin auszurichten. Meine brüderliche Anteilnahme und mein Gebet für Euch, Eure Priester und Gläubigen begleitet Euch dabei.

Schenkt auch Ihr mir, Eurem Bruder auf dem Bischofsstuhl in Rom, solche geistliche Gaben: Euer Rat für meinen Dienst an der Kirche Christi wird mir immer willkommen sein; Eure Fürbitte ist mir Grund für Zuversicht und Freude. Gott sei gepriesen für diese unsere aufrichtige Gemeinschaft und Einheit! Mit besten persönlichen Wünschen erteile ich Euch und Euren Diözesen von Herzen meinen besonderen Apostolischen Segen.

 

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