PASTORALBESUCH IN ÖSTERREICH
TREFFEN VON JOHANNES PAUL II.
MIT VERTRETERN AUS WISSENSCHAFT, KULTUR UND KUNST
Wien - Montag, 12. September 1983
Sehr geehrte Damen und Herren!
1. Mit Freude über diese Begegnung begrüße ich Sie alle. Unter Ihnen ebenso Forscher und Lehrer der österreichischen Universitäten, Hochschulen und Akademien, wie Künstler aus den verschiedenen Bereichen der bildenden Künste, der Musik, der Literatur und des Films. Unter Ihnen sind auch Verantwortliche von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Zugegen sind schließlich jene, die in der Kirche Österreichs um eine schöpferische Begegnung mit Wissenschaft, Kunst und Medien bemüht sind, an ihrer Spitze der Herr Kardinal.
2. Könnte ich Ihnen nicht begegnen, würde meinem Besuch in Österreich ein wichtiges Element fehlen. Ihr Land hat in der konfliktreichen, aber fruchtbaren Überschneidung mehrerer Kulturen über Jahrhunderte einen großartigen und unverwechselbaren Beitrag zu Wissenschaft und Kunst erbracht, und Sie fügen diesem reichen Erbe Ihren Beitrag für heute und morgen hinzu. Die Geschichte von Wissenschaft und Kunst ist in Österreich, wie in Europa überhaupt, auf vielfältige Weise verbunden mit der Geschichte des Glaubens und der Kirche. Konflikte haben diese Verbindung zuweilen belastet, ja fast unterbrochen. Diese Konflikte sollen uns aber den Blick auf soviel in gemeinsamer Bemühung Geglücktes nicht verstellen noch dürfen sie ein neues Gespräch zwischen Wissenschaft, Kunst und Kirche zum Wohle der Menschen verhindern.
3. Mögen wir uns im übrigen auch an verschiedenen Ufern aufhalten, so begegnen wir einander doch in der Frage nach dem Menschen und seiner Welt, in der Sorge um ihn und in der Hoffnung für ihn. Und wir tun dies in einer weltgeschichtlichen Situation, in welcher die Zukunft des Menschen radikal bedroht Ist. In einer solchen Stunde sind alle schöpferischen, alle nachdenklichen und gutwilligen Menschen aufgerufen, ihre Kräfte mehr als je zu verbinden, damit der Weg des Menschen, der Weg der Menschheit nicht durch Katastrophen blockiert oder beendet werde.
4. Am Sitz der UNESCO in Paris habe ich vor drei Jahren den dort versammelten Verantwortlichen aus allen Kulturen der Menschheitsfamilie zugerufen: »Seht da: der Mensch!«. Und ich fügte hinzu: »Man muß den Menschen. lieben, weil er Mensch ist«. Hier in Wien und vor Ihnen möchte ich diese Worte wiederholen. Der Mensch ist ja das zusammenfassende Thema aller Wissenschaft und aller Kunst, und die Medien haben gerade dies zum Ziel, Menschen miteinander zu verbinden.
Der Mensch als Individuum, als Mitmensch und als Kind Gottes ist auch das Thema der Kirche: so sehr, daß ich in meiner Enzyklika »Redemptor Hominis« sagen konnte: »Dieser Mensch ist der erste Weg, den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrages gehen muß: ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung Gottes und der Erlösung führt« (Redemptor Hominis, 14)
Die Kirche bekennt den kühnen Glauben, daß der Mensch ein Bild Gottes ist und daß er bei Gott seine ewige Zukunft hat.
5. Vor diesem Hintergrund möchten Sie bitte die schlichten Gedanken sehen, die ich Ihnen nun vorlege. Alle Wissenschaft vollendet sich als Wissenschaft von Menschen und für den Menschen. Das gilt in gewisser Hinsicht auch von der Theologie, die gerade so vom Menschen handelt, daß sie ihn überschreitet und von seinem Schöpfer her sieht. In allen ihren Bereichen hat sich die Wissenschaft weitestgehend spezialisiert. Dies war eine der Voraussetzungen für jene Entdeckungen und Entwicklungen, die uns staunen lassen über den Geist des Menschen und die den Glaubenden darüber hinaus zum Lob des Schöpfers dieses Geistes drängen. Die technische Anwendung des wissenschaftlichen Fortschritts hat die Bedingungen menschlichen Lebens vielfach verbessert. Man denke nur an die Erfolge im Kampf gegen Hunger und Schmerz.
Auch die von der Wissenschaft in Anspruch genommene Wertfreiheit, Wertneutralität ihres Handelns kann als asketische Distanz zu eigenem Wunschdenken reinigend auf die Analyse wirken, wenn sie sich nicht so verabsolutiert, daß sie den unabdingbaren Anspruch sittlicher Werte nicht mehr erkennt.
6. Wie jedes menschliche Handeln steht aber auch jenes der Wissenschaft und ihrer technischen Anwendung unter einer unaufhebbaren Ambivalenz. Der Mensch ist bedroht durch das, was er selbst produziert. Im Blick auf die Katastrophe von Hiroshima hat der Physiker Jakob Robert Oppenheimer bekannt: »Die Physiker haben die Sünde kennengelernt«.
Angesichts der vielfältigen Bedrohungen der Menschheit als Folge technischer Umwälzungen wächst vielerorts die Skepsis gegen Wissenschaft und Technik und entwickelt sich da und dort sogar zur Feindschaft. Dennoch wird nicht der Verzicht auf Wissenschaft und technische Anwendung ihrer Ergebnisse die Probleme lösen, sondern nur ein fortgesetzter, vielleicht sogar noch stärkerer Einsatz beider, freilich unter humanem Maßstab. Denn nicht Wissenschaft und Technik als solche bedrohen den Menschen, sondern ihre Loslösung von sittlichen Maßstäben.
7. Es ist an der Zeit, daß der Mensch — Gottes Ebenbild — wieder Herr und Ziel von Wissenschaft und Technik werde, damit das Werk seines Geistes und seiner Hände nicht ihn und seine Umwelt verschlinge. Dazu müssen sich Wissenschaft, Technik und Politik jene Fragen stellen, die ebenso auf den unverwechselbaren Einzelmenschen wie auf die ganze Menschheit zielen. Fragen, deren zeitweilige Suspendierung den wissenschaftlichen Fortschritt mitermöglicht hat. Fragen der Philosophie und der Religion, die auf Sinn, Grenzen, Prioritäten und Kontrolle wissenschaftlichen und technischen Handelns abzielen, wobei es selbstverständlich nicht um eine Eingrenzung oder Fremdbestimmung der sogenannten Grundlagenforschung in ihrer Suche nach der Wahrheit gehen darf. Diese Fragen erscheinen im ersten Buch der Bibel als Gottes bleibende Fragen an den Menschen: »Adam, wo bist du?«, und »Kain, wo ist dein Bruder Abel?«. Die Sensibilität dafür hängt in hohem Maße auch vom Beitrag der Humanwissenschaften ab, von denen ich in meiner Ansprache vor dem Institut Catholique in Paris sagte, sie seien das freiligende Kapital unserer Zeit: sie zeigten aber trotz der Horizonte, die sie uns eröffnen, auch die ihnen anhaftenden Grenzen.
8. Es ist ermutigend zu wissen, daß die Allianz jener, die sich als Wissenschaftler selbst solche Fragen stellen, im Wachsen begriffen ist. Über die Grenzen von Ländern und Machtblöcken hinweg bildet sich eine wissenschaftliche Weltgemeinschaft, die sich aus ethischer Verantwortung mit der Gefährdung des Menschen durch genetische Manipulationen, biologische Experimente und die Vervollkommnung chemischer, bakteriologischer und nuklearer Waffen nicht einfach abfindet. Ein Beispiel dafür gaben jene 58 Wissenschaftler aus allen Erdteilen, die im September 1982 anschließend an eine Tagung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften eine Erklärung über die Vermeidung eines Atomkrieges veröffentlicht haben! («L'Osservatore Romano», editio germanica, n. 26, die 1 iul. 1983, pp. 13-14.).
9. Der Mensch und seine Welt — unsere Erde, die sich bei der ersten Weltraumfahrt als Stern in Grün und Blau gezeigt hat —, sie müssen bewahrt und entfaltet werden. Dazu gehört ein behutsamer Umgang mit dem Leben, auch mit dem tierischen Leben, und mit der ganzen belebten und unbelebten Natur. Die Erde ist im Horizont des Glaubens kein schrankenlos ausbeutbares Reservoir, sondern ein Teil des Mysteriums der Schöpfung, dem man nicht nur zugreifend begegnen darf, sondern Staunen und Ehrfurcht schuldet.
10. Das Staunen öffnet uns aber nicht nur einen oft vergessenen Weg zur Natur als Schöpfung Gottes, sondern auch einen Weg zur Kunst als Werk des schöpferischen Menschen. Max Reinhardt, der die Salzburger Festspiele mitbegründet hat, nannte die Kunst ein Lebensmittel, also eine Bedingung entfalteten menschlichen Lebens. Und der Dichter Rainer Maria Rilke, der Ihrem kulturellen Raum angehört, sprach vom Kunstwerk, von der Musik als von etwas, das hinreißt und tröstet und hilft. Helferin des Menschen, das ist eine schöne Definition der Kunst, ein schöner Auftrag für sie. Diesem Auftrag entspricht sie aber nur, wenn sie ihre Freiheit an das Humanum bindet. Das Humanum seinerseits kommt in seiner Größe mit all seinen Hoffnungen, aber auch Gefährdungen nur in den Blick, wenn es im Horizont des Unendlichen, im Horizont Gottes, gesehen wird, der letztlich hinter aller Sehnsucht des Menschen steht und sie allein erfüllen kann.
Der einzelne wie die Gesellschaft brauchen die Kunst zur Deutung von Welt und Leben, zur Ausleuchtung der epochalen Situation, zum Erfassen der Höhen und Tiefen des Daseins. Sie brauchen Kunst, um sich dem zuzuwenden, was die Sphäre des bloß Nützlichen übersteigt und so erst den Menschen vor sich selber bringt. Sie brauchen Literatur und Dichtung: ihr sanftes wie ihr prophetisch zorniges Wort, das oft am besten refft in Einsamkeit und Leiden. Nach einem tiefen Gedanken Beethovens ist der Künstler gewissermaßen zu einem priesterlichen Dienst berufen.
11. Auch die Kirche braucht die Kunst, und zwar nicht zuerst, um ihr Aufträge anzuvertrauen und so ihren Dienst zu erbitten, sondern um mehr und Tieferes über die »Conditio humana«, über Glanz und Elend des Menschen zu erfahren. Sie braucht die Kunst, um besser zu wissen, was im Menschen ist: in jenem Menschen, dem sie das Evangelium verkünden soll.
Im besonderen bedarf die Kirche der Kunst für ihre Liturgie, die in ihrer Vollgestalt ein durch den Glauben inspiriertes Kunstwerk sein will unter Einbeziehung aller schöpferischen Kräfte aus Architektur, bildender Kunst, Musik und Dichtung. In ihrer eschatologischen Dimension verstanden will die Liturgie Teilhabe am Glanz und Klang des ewigen Jerusalem sein, von dem die Bibel in ihrem letzten Buch in künstlerischer Sprache spricht. Diese Stadt ist der Ort, wo die Schönheit und das Gute, die im Lauf der Geschichte so oft und so schmerzlich auseinanderfallen, für immer vereint sind.
Albert Einstein sagt, daß an der Wiege der wahren Wissenschaft das Geheimnis stünde. In die Tiefe dieses Geheimnisses verweisen Religion und Kirche und verbinden sich so mit der Kunst und der Wissenschaft.
Man hat zuweilen vom bevorstehenden oder angekommenen Ende der Kunst gesprochen. In dieser Hinsicht ergeht es der Kunst, aber auch der Philosophie ähnlich wie der Kirche. Ich selbst vertraue auf die Unerschöpflichkeit der Kunst in allen ihren Bereichen, weil ich von der Unerschöpflichkeit des menschlichen Geistes und der menschlichen Phantasie überzeugt bin: »Gott schuf den Menschen als sein Abbild« (Gen 1, 27). Von dem allmählich wieder beginnenden Gespräch zwischen Kunst und Kirche dürfen wir als Ergebnis vielleicht auf lange Sicht auch künstlerische Werke erwarten, die den Menschen, Glaubenden wie Suchenden, auf eine neue Weise Augen, Ohren und Herz auftun.
12. Darf ich mich nun auf besondere Weise Ihnen zuwenden, die als Publizisten den Menschen einen wichtigen Dienst tun? Ihr Dienst ist Vermittlung, seine Instrumente heißen darum Medien. Ich danke Ihnen für Ihren großen Beitrag dazu, daß das Wort der Kirche gerade auch in diesen Tagen meines Besuches so viele Menschen erreichen konnte.
Im Namen Unzähliger, welche diesen Dienst von Ihnen erwarten und benötigen, bitte ich Sie: Bauen Sie beharrlich Brücken zwischen getrenntesten Ufern und über Grenzen hinweg. Ihr Land bietet dafür besondere Möglichkeiten. Betrachten Sie den Menschen und die Gesellschaft nicht nur mit einem unerbittlich diagnostizierenden Blick, sondern mit einem Blick der Hoffnung, mit dem Spürsinn für mögliche Veränderungen zum Besseren. Ermöglichen Sie es dem Guten, als wenigstens ebenso spannend erlebt zu werden wie das Unerfreuliche. Und zeigen Sie auch im Bedauerlichen das damit verbundene Gute.
13. »Seht da, der Mensch!«. Mit diesem Wort möchte ich meine Überlegungen zusammenfassen. Verehrte Wissenschaftler, Künstler und Publizisten, übersehen und überhören Sie ihn nie: den hoffenden, liebenden, angsterfüllten, leidenden und blutenden Menschen. Seien Sie sein Anwalt, hüten Sie seine Welt: diese schöne, gefährdete Erde. Sie treffen sich dabei mit den Anliegen der Kirche, die unverwandt auf jenen schaut, über den Pilatus sagte »Ecce homo«, »Seht da, der Mensch!«.
Jesus Christus — Gottes und der Menschen Sohn — ist der Weg zur vollen Menschlichkeit. Er ist auch das Ziel. Möge es vielen geschenkt werden, ihn neu zu erkennen — auch durch Sie.
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